Sabine Sanio --> bio
Klangkunst
Integration von Musik und bildender Kunst?
Die Klangkunst ist als eigenständige Gattung erst in Folge der Entwicklung der modernen Klangaufzeichnungs- und Übermittlungstechniken möglich geworden. Diese neuen Formen werden mit Begriffen wie Klangskulptur, musikalisches Environment, Klangkunst, Klanginstallation umschrieben und beziehen visuelle, akustische, architektonische oder soziale Aspekte in unterschiedlichster Weise ein. Zur Zeit entsteht auf diese Weise ein offenes Spektrum unterschiedlicher Möglichkeiten im Bereich zwischen Musik, Bildobjekt und Klangskulptur, das gegenwärtig von vielen Künstlern erforscht und entfaltet wird und eingehende theoretische Reflexion verdient.
Von herkömmlicher Konzertmusik unterscheiden sich Klanginstallationen besonders in ihrer räumlichen und zeitlichen Gestaltung sowie in der künstlichen Generierung des Klangs. Sie sind nicht eindeutig der Musik zuzuordnen, häufig spielen Elemente der bildnerischen, architektonischen oder skulpturalen Gestaltung eine nahezu ebenso wichtige Rolle. Es ist auch kein Zufall, daß in diesem Bereich viele bildende Künstler arbeiten. Die Besonderheiten der Klangkunst in zeitlicher, räumlicher und technischer Hinsicht müssen näher beleuchtet werden, will man das Potential dieser neuen Gattung begreifen. Am auffälligsten ist die Erweiterung der Möglichkeiten durch die künstlische Klanggenerierung. Nun ist die Musik nicht mehr auf die Aufführung im Konzertsaal angewiesen, sie muß nicht mehr unbedingt einen genau festgelegten Anfang und ein entsprechendes Ende aufweisen. Mit Hilfe von Tonbandgeräten und Endlosschleifen oder entsprechender Computertechnik kann ein Raum heute ohne Musiker ununterbrochen beschallt werden. Damit ist auch der Ort für ein visuell-akustisches Environment frei wählbar. Klangskulpturen finden sich im Freien ebenso wie in geschlossenen Räumen, im öffentlichen Raum oder in Kunstgalerien. Während sie in einer Kunsthalle ähnlich wie im Konzertsaal gewissermaßen in reiner Form zur Geltung kommen, modifiziert in allen anderen Fällen der Ort auch den Charakter einer Installation.
Den Raum der Kunst, die Museen, Galerien, Theater- und Konzertsäle zu verlassen und in alltäglich genutzte Räume vorzudringen, gehört zu den wichtigsten Intentionen der Kunst unseres Jahrhunderts seit den historischen Avantgardebewegungnen der Futuristen, Dadaisten und Surrealisten. In den sechziger Jahren griffen die Fluxus-, Performance- und Happening-Bewegungen diese Zielsetzung wieder auf. Heute scheint die Klangkunst, die zu diesen Kunstbewegungen enge Verbindungen aufweist, gute Chancen zu haben, um in den öffentlichen Raum auf Dauer einzudringen. Gegenüber der Musik für den Konzertsaal ebenso wie gegenüber dem traditionellen Tafelbild oder der Skulptur sind Klanginstallationen um verschiedene Elemente erweitert und sprechen meist mehrere Sinne an. Im Gegensatz zur Konzertmusik erfolgt in der Klangkunst die Gliederung des Raums nicht durch die Gegenüberstellung von Interpret und Publikum, Konzertpodium und Zuschauerraum. Dadurch ergeben sich eine Vielzahl an neuen räumlichen Möglichkeiten. Diese betreffen zunächst einfach die physikalische Dimension des Raumes - neben der akustischen zählen dazu auch unsere Formen, Räume überhaupt sinnlich zu erfahren, sie mit der Bewegung in ihnen zu erforschen - wie seine Bedeutung für den Klang, die durchaus über die bloß akustische Dimension hinaus auch musikalisch und ästhetisch relevant sein kann. Diese neue Gattung besetzt einen Bereich zwischen den traditionellen Künsten, in dem die Formen der verschiedenen Bereiche gleichzeitig zur Anwendung kommen können. So präsentiert sich in vielen der neuen Environmentformen das Total einer empirischen Situation, in der alle Elemente und Aspekte realer Situationen - visuelle, räumliche, haptische, architektonische ebenso wie solche der historischen oder funktionalen Bestimmtheit eines Ortes - und auch alle Formen der Wahrnehmung gestaltet werden können. So können in Klanginstallationen alle wahrnehmbaren Aspekte der empirischen Wirklichkeit thematisiert werden. Neben vom Künstler gestalteten Elementen kann auch auch die reale Umgebung mit allen ihren Elementen in vielfältiger Weise einbezogen werden. Der Rezipient wird in eine Situation hineingestellt, in der die Rezeption von Kunst das bewußte Erfahren einer konkreten Situation als sinnlich wahrnehmbare Realität intendiert.
Nicht nur die räumliche, auch die zeitliche Ordnung erscheint
in der Klangkunst gegenüber der Konzertmusik grundlegend
verändert. Während die Eroberung des öffentlichen
Raums zu den wichtigsten Zielsetzungen der Klangkunst gehört,
ist der Zwang zur Ordnung der musikalischen Zeit in der Klangkunst
im Vergleich zur Konzertmusik eher schwächer ausgeprägt,
neben streng linear geordneten Verläufen sind auch statische
Formen sowie die Reduktion auf kleinste akustische Ereignisse
denkbar, die häufig eher die akustische Situatiuon des spezifischen
Raumes bewußt machen als eine eigenständige musikalische
Dimension ausprägen sollen. Wegen dieser weitreichenden Veränderungen
muß in der Klangkunst die gesamte Rezeptionssituation und
nicht allein die musikalische des Hörers eingehend untersucht
werden.
Die Dimension der musikalischen Zeit erfährt in der Klangkunst
schon deshalb eine erhebliche Verwandlung, weil sie hier nur eine
neben mehreren anderen ist. Obwohl der Raum und insbesondere der
öffentliche Raum ebenso wie taktile, skulpturale und visuelle
Elemente bisweilen gleichberechtigt neben die Dimension der Zeit
treten, diese sogar dominieren und in den Hintergrund rücken,
kann die Frage nach der musikalischen Zeit für eine charakterisierende
Betrachtung auch bei dieser neuen musikalischen Kunst entscheidende
Bedeutung beanspruchen. Denn auch bei Klanginstallationen bestehen
innerhalb der musikalischen Dimension vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten,
wobei auch ein eigenständiger musikalischer Beziehungszusammenhang
innerhalb des audiovisuellen Ensembles ausgebildet werden kann.
Das Spektrum der Möglichkeiten reicht von ausgetüftelten
Zusammenhängen mit eigener innerer Dramaturgie bis zur Beschränkung
auf wenige Klänge oder Geräusche, die direkt auf visuelle,
haptische oder architektonische Aspekte Bezug nehmen. Trotz dieser
Fülle an Möglichkeiten läßt sich, was die
zeitliche Organisation angeht, insgesamt eine Tendenz zu offenen
Formen beobachten. Dies betrifft den zeitlichen Verlauf insgesamt
ebenso wie die Organisation der musikalischen Beziehungen, die
häufig weniger strikt ist als bei Musik für den Konzertsaal.
Als musikalisches Material werden Klänge statischem Charakter
bevorzugt, bei denen die zeitliche Gestalt weitgehend unbestimmt
bleibt.
Sabine Sanio, *1958 in Hanau, Studium der Germanistik, Philosophie, Linguistik und Musikwissenschaft in Frankfurt/M. und Berlin, lebt als freie Autorin in Berlin. 1995 Dissertation zum Thema Alternativen zur Werkästhetik. Untersuchungen zum Werk von John Cage und Helmut Heißenbüttel, erscheint im Pfau-Verlag, Saarbrücken 1999. Herausgeberin (zusammen mit Christian Scheib) des Sammelbandes das rauschen, Hofheim 1995, und (zusammen mit Nina Möntmann und Chrstoph Metzger) des Katalogs minimalisms. Rezeptionsformen der 90er Jahre, Stuttgart 1998. Weitere Veröffentlichungen zur amerikanischen und experimentellen Musik, zur Klangkunst sowie zum Verhältnis von Musik und Sprache, zuletzt etwa Neue Musik und die Wahrnehmung der Täuschung, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Heft 37, Berlin 1998.